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Kalte Ekstasen

Hanno Millesi

Seiner Einladung Folge leistend, suchte ich ihn schließlich in seiner Wohnung auf. Da er diese Räumlichkeiten auch als Arbeitsplatz nützt, ist das größte Zimmer in zwei Bereiche geteilt. Etwa ein Viertel der Fläche nimmt eine Sitzgruppe ein. Sie besteht aus einem Sofa, einem Fauteuil und zwei Sesseln – allesamt rund um einen kniehohen Tisch gruppiert. Ansonsten präsentierte sich dieser Raum nahezu leer und mit weißen Papierbahnen ausgelegt.

An den Wänden lehnten einzelne Leinwände verschiedenen Formats, jede davon mit der Bildfläche gegen die Wand gedreht. Neben dem Fenster am anderen Ende des Raumes sah ich eine provisorisch auf drei Tischbeinen befestigte Auflagefläche, auf der sich verschiedene Fläschchen, metallene Dosen, Tuben, Pinsel und für mich nicht näher definierbare Arbeitsutensilien befanden.

Mehr war für mich nicht zu erkennen. Vor allem deswegen nicht, weil ich unaufgefordert auf dem Sofa Platz genommen hatte. Ich wollte nicht neugierig wirken. In einer privaten Atmosphäre, die ich zum ersten Mal betrete, erscheint es mir ungehörig, alles abzugehen und anzustarren.

In diesem Moment fiel mir allerdings ein, dass mein Gastgeber das wahrscheinlich gerne gehabt hätte. Im Nachhinein lässt sich bekanntlich nur noch schwer auf jene Dinge hinweisen, die einem die eigentlich wichtigen sind. Vor allem, sofern das, was offensichtlich so am Herzen liegt, die ganze Zeit in unmittelbarer Nähe vorhanden war.

Die zur Wand gedrehten Bildflächen der Leinwände sollten zweifellos zusätzliche Neugierde erwecken und es meinem Gastgeber ermöglichen, auf eine Bitte, sie betrachten zu dürfen und vielleicht sogar erklärt zu bekommen, mit einem scheinbar in Bescheidenheit zögernden Blick zu reagieren. Aufgabe eines solchen Blickes wäre es dann lediglich, ein ausführliches und reichhaltig kommentiertes Vorführen jeder einzelnen Bildfläche einzuleiten.

Am liebsten hat ein Gastgeber nämlich Fragen, die höflichkeitshalber gleich zu Beginn, eingangs und unmittelbar an ihn gerichtet werden. Fragen, die ihm alle vor einer ausgiebigen Unterhaltung gestellt werden sollten. Zu einem Zeitpunkt, an dem der Gast noch kaum Gelegenheit gehabt hat, etwas zu überhören, und demnach im Zuge einer Analyse auch nicht allzu viel falsch gemacht werden kann. Solange man noch nicht ausdrücklich informiert worden ist, dürfte schwerlich der Vorwurf erfolgen, irgend etwas müsste doch längst klar sein.

In einem solchen Stadium lassen sich außerdem noch relativ leicht Hinweise auf eine scheinbare Begeisterung einstreuen, mögen diese inhaltlich auch total daneben liegen. Sie werden ohnehin als Gesten verstanden und wie lindernder Balsam willkommen geheißen.

Wer irgendwo eintritt, lässt den Blick zunächst durch den Raum wandern und stellt beeindruckt, gleichgültig oder angewidert fest, in was für einer Umgebung er sich befindet. Wie diese Einschätzung ausfällt, steht allerdings eher in einem Zusammenhang mit dem Interesse, das man dem Gastgeber entgegenbringt, als mit der tatsächlichen Beschaffenheit der jeweiligen Räumlichkeit beziehungsweise dem darin befindlichen Mobiliar. Und wenn nicht, dann gilt das zumindest für das, was man sich davon als vermeintliche Reaktion anmerken lässt.

Aller Anfang ist das Zeitalter der Naivität. Eine Phase der vorauseilenden Korrektur und zugleich eine Tabelle, auf der man sich selbst weit hinten einstuft, bevor noch überhaupt mit irgendetwas begonnen werden konnte. Eine solche Einschätzung darf daher auch nicht allzu ernst genommen werden, wenngleich sich der soeben eingetretene Gast in ihrem Schatten später nicht vorwerfen lassen muss, er hätte von Beginn an darauf hinweisen sollen, dass er überhaupt nichts versteht – er hat es angedeutet – oder, dass er nicht in der Lage ist, irgendeiner Sache mit der ihr gebührenden Seriosität gegenüberzutreten. Seine Möglichkeiten sind begrenzt.

Vergleichbar verhält es sich mit der anfänglichen Neugierde. Als Gast ist man zunächst davon überzeugt, sie dem Gastgeber in irgendeiner Form schuldig zu sein. Und genau in jenem Moment, in dem man so etwas wie die intime Zone der Räumlichkeiten eines anderen erstmals betritt, entscheidet sich, ob man in der Lage sein wird, dieser Erwartungshaltung gerecht zu werden; ob man das Zeug dazu hat oder nicht – ob man es will.

Ich beispielsweise wollte es nicht. Ich kann mich relativ genau daran erinnern. Ich betrat den Raum mit seiner Zweiteilung, ich begriff die doppelte Funktion. Sogar die Sensibilität der künstlerischen Seele, der es zumindest auf halbem Wege entgegenzukommen gilt, leuchtete mir augenblicklich ein. In diesem Moment wäre es ein Leichtes für mich gewesen, einfach durchs Zimmer zu gehen, interessiert zu tun und mit dem tiefen Eindruck, den man anstatt einer Flasche Wein oder irgendwelcher Süßigkeiten mitgebracht hat, zu fragen, ob ich die eine oder andere Leinwand berühren und umdrehen dürfe. Eine freundliche Anteilnahme, jenseits wirklicher Bewunderung, gepaart mit keinerlei Scheu, eine solche gegebenenfalls zu zeigen. Für den Gastgeber andererseits eine ideale Gelegenheit, lächelnd um Verständnis zu bitten, weil es da ja noch gar nichts zu sehen gäbe, oder leicht überheblich und strapaziert darauf hinzuweisen, man werde zweifellos nichts damit anfangen können. Als ob das wichtig wäre.

Ausgezeichnete Augenblicke, die den künstlerisch tätigen Gastgeber innerlich frohlocken lassen. Etwas, das selten genug passiert, und dessen Nicht-Zustandekommen so jemand deswegen umso mehr beklagt. Zuweilen kann es sogar vorkommen, dass der Künstler seinem Gast, sofern dieser ihm anstatt des Anscheins seiner vollständigen Aufmerksamkeit, nichts als einen erwartungsvollen Blick widmet, vorwirft, er hätte ihm ein seinem Talent gebührendes Zugeständnis vorenthalten.

Manches Mal werden Einladungen lediglich ausgesprochen, damit sich der empfindsame Gastgeber während einer bestimmten Zeitspanne überlegen fühlen kann, was in der Regel mit Freundlichkeit, einem Essen, diversen Getränken und ehrlicher Dankbarkeit für das vorgegebene Interesse vergolten wird.

Ich saß also auf dem Sofa und sah von hier aus nichts weiter als das, was ich mit dem ersten Blick bereits registriert hatte. Insignien eines Arbeitsprozesses. Zu Anschauungszwecken abgewandt. Einer eingehenden Betrachtung zuliebe zur Wand gedreht. Ich hatte nicht vor, ein Wort darüber zu verlieren.

Schließlich hatte ich mir diese Situation nicht ausgesucht oder irgendetwas Diesbezügliches absichtlich herbeigeführt, sondern war hineingeschlittert wie man sich zuweilen in einem Zustand wiederfindet, von dessen allmählichem Überhandnehmen man nicht das Geringste mitbekommen hat. Ein Schritt ergibt den nächsten, ohne dem vorhergehenden oder dem darauffolgenden eine Frage zu stellen. Jeder neu hinzugekommene ist Folgeerscheinung, die der Gesamtheit mehr Gewicht verleiht, Element einer umfassenden Geschwindigkeit, die von seinem Hinzukommen erhöht wird. Ich möchte damit sagen, dass ich meine Entscheidung, bei der es sich im Grunde um ein Nicht-imstande-Sein handelte, in diesem Augenblick möglicherweise bereut habe.

Bei dem Künstler handelte es sich schließlich um einen guten Bekannten, und einen solchen sehe ich nicht gerne in seiner ganzen Armseligkeit. Schon gar nicht sofern auch nur der leiseste Verdacht besteht, ich könnte für diese bemitleidenswerte Perspektive verantwortlich sein.

Mein Gastgeber bat mich mit einer wortlosen Handbewegung, ihn kurz zu entschuldigen, und ich bedauerte die offenbar vergiftete Atmosphäre. Wie einfach wäre es gewesen, jene paar Schritte höflichkeitshalber zu absolvieren. Niemand hätte mich einer Aufdringlichkeit verdächtigt, sondern eher für einen gütigen Menschen gehalten, der ganz einfach weiß, in welchen Situationen sich was gehört. Eine dritte Person war schließlich nicht anwesend. Jemand, der zwar höchstwahrscheinlich vor demselben Problem gestanden wäre, sich allerdings trotz allem seine ganz persönlichen Gedanken über mein Verhalten hätte machen können. Eine solche phasenweise Objektivität zwischen einem auf ein bestimmtes Verhalten fixierten Gastgeber und einem von dieser Erwartung, dem, was sich gehört, und der eigenen Überzeugung sowie einem tiefen Angewidert-Sein eingeschüchterten Gast, stellt eine ausgesprochen unangenehme Beeinträchtigung dar. Ansonsten wäre man unter sich. So existieren zwei Paarungen, jeweils Gast und Gastgeber, deren Umgang mit einer bestimmten Problematik von einem Dritten beobachtet und zweifellos auch beurteilt wird. Der liebenswerte Trottel oder der konsequente Widerling.

Vom Gast wird traditionellerweise eher die erste Version erwartet. Dafür bietet man ihm an, das Ganze lediglich als ein auf den Moment bezogenes Rollenspiel aufzufassen. Nur der unverbesserliche Mistkerl bestünde in einer solchen Situation auf ein Verhalten wie unter neutralen Umständen.

Selbst in diesem Stadium bot sich mir noch eine Chance das Versäumte nachzuholen: Mein Gastgeber war hinausgegangen, und somit gab es im Moment niemanden, der Grund oder auch nur Gelegenheit gehabt hätte, mir zu verbieten, in den Arbeitsbereich vorzudringen. Nicht einmal jemand, der es hätte belächeln können.

Am besten wäre es gewesen, ganz einfach ans Fenster zu treten, in dessen unmittelbarer Umgebung die meisten Leinwände gestapelt waren, um nötigenfalls aus lauter Zurückhaltung anzudeuten, ich wäre lediglich am Ausblick interessiert. Solche Umsicht bereitet das Interesse am Naheliegenden vor. Wäre mein Freund dann zurückgekehrt, hätte ich ihn ganz direkt, ohne ihm ausreichend Zeit zu lassen, sich auf irgendetwas Derartiges einzustellen, gefragt, ob ich mir zumindest eine der Leinwände ansehen dürfe. Der Ärmste hätte nicht gewusst, wie ihm geschehe, da er ja zweifellos mit der Befürchtung zurückgekehrt wäre, nunmehr die Gastgeberrolle bis zuletzt durchspielen zu müssen, ohne zu dem Vergnügen gekommen zu sein, auf ein ihm vermeintlich zustehendes Interesse seitens seines Gastes eingehen zu dürfen oder alles in dieser Hinsicht abblitzen zu lassen. Und plötzlich hätte er sich in genau jener Situation wiedergefunden, die er die ganze Zeit über herbeigesehnt und dennoch bereits verloren geglaubt hatte. Möglicherweise wäre ihm eine solche Entwicklung sogar noch vorteilhafter erschienen, da ich scheinbar überfallsartig an ihn herantreten würde, anstatt die übliche, die anfängliche Betretenheit für das Absolvieren einer solchen Floskel auszunützen.

Ich hätte dann sozusagen mit einiger Verspätung zugeschlagen, nach einer Verzögerung, die normalerweise die ausschlaggebende ist, im Nachhinein allerdings bestenfalls darüber Auskunft erteilt, wie lange jemand benötigt, um sich der einfachsten Verhaltensregeln zu besinnen. In der Folge wäre nur noch unklar geblieben, ob ich tatsächlich so lange gebraucht hätte, um dahinter zu kommen, was sich gehört, oder zurückhaltend geblieben wäre  die nach wie vor umgedrehten Leinwände , bis ich über nichts mehr verfügt hätte, um es meinem unwiderstehlichen Interesse entgegenzuhalten. Lassen sich, was meinen künstlerisch orientierten Gastgeber betrifft, überhaupt bessere Voraussetzungen vorstellen, um meinem ungeschickt kaschierten Enthusiasmus eine Absage zu erteilen? Wohl kaum.

Ich aber habe erneut versagt. Zugegebenermaßen gingen mir Gedanken wie diese durch den Kopf, allein ich fühlte mich außerstande, auch nur irgendetwas zu unternehmen, das eine solche Situation herbeigeführt hätte. Dabei kann man sich nie wirklich sicher sein, ob man tatsächlich die Vorbereitungen scheut und zu der Sache an sich ohne Weiteres bereit wäre, oder die Abneigung den anfänglichen Mühen gegenüber lediglich vorgeschoben werden, um dem Kern der Angelegenheit aus dem Weg zu gehen. Möglicherweise war mir das auch einigermaßen egal, und ich benötigte nur genau soviel Zeit, mir das zu überlegen, wie mein Gastgeber um wegzugehen und wiederzukommen.

Trotz meiner Gemeinheit, beziehungsweise obwohl ich mir bewusst war, dass meine Unhöflichkeit meinem Gastgeber zugesetzt haben dürfte, war ich nunmehr bereit, ihn aus seiner schlechten Stimmung zu erlösen. Ich überlegte mir irgendein Kompliment, das ein schöpferischer Mensch mit Sicherheit gerne hören würde. Er selbst jedoch war es, der dieses Vorhaben im Keim erstickte, trug er doch, als er wieder hereinkam, ein Tablett mit Gurken, Tomaten, Salz sowie einer Flasche Wodka in Händen.

Das Mitgebrachte schlug ein weiteres Kapitel auf, war Anzeichen, eines erfolgten Schnitts und die dadurch veränderte Problematik, auf die eine neue Situation Anspruch erheben durfte. Ich jedenfalls empfand es so.

Mein Gastgeber setzte sich mir gegenüber in den Fauteuil, stellte ab, was er hereingebracht hatte und lächelte mir zu wie einer, der mehr weiß und darunter auch, dass alle anderen sich über diesen Unterschied im Klaren sind. Mit einem solchen Gesichtsausdruck konfrontierte er mich derart spontan, dass mir nicht einmal Zeit blieb, zuvor einen fragenden Blick an ihn zu richten, was, meiner Ansicht nach, passend gewesen wäre.

Er blickte viel sagend, und ich danach fragend. Als ob man eine Antwort findet und sich, der Vollständigkeit halber, eine Frage dazu ausdenkt.

In der nächsten Sekunde, das heißt schneller, als ich ausreichende Überlegungen zu der nunmehr entstandenen Situation anstellen konnte, nahm er eine der Gurken in die Hand und schnitt sie mit Hilfe eines Messers der Länge nach auf.

Erst jetzt hatte ich Gelegenheit, festzustellen, dass es sich bei den Gurken um Salzgurken handelte, was anhand der Größe, der äußeren Beschaffenheit sowie des herausquellenden Saftes bei genauerem Hinsehen unschwer zu erkennen war. Das Messer hatte keine Schwierigkeiten in das triefende, gegen die Mitte zu loser werdende Gurkenfleisch einzudringen und eine tiefe Kerbe zu hinterlassen. Mit seinen beiden Daumen verbreiterte mein Gastgeber daraufhin diesen Schnitt, wobei ihm Gurkensaft über beide Hände lief, und streute mittels eines der Daumen und eines Zeigefingers Salz in die Öffnung.

Nachdem er alle Gurken derart behandelt hatte, nahm er sich die Tomaten vor. Er viertelte sie. Bei keinem einzigen Schnitt schien er auch nur ein Mindestmaß an Kraft zu benötigen. Die Klinge des Messers wurde angesetzt und drang, scheinbar von nichts als der Schwerkraft dazu gedrängt, ins Tomatenmark. Übrigens bediente sich mein Gastgeber bei der Viertelung einer Technik, die vorsah, jeweils zwei Schnitte durchzuführen, das heißt, die Tomate schnittgerecht herzurichten, das Messer hindurch zu ziehen, die Tomate zu drehen und einen zweiten Schnitt anzubringen. Hernach öffnete er die Umklammerung, die seine Finger gebildet hatten, und die einzelnen Teile fielen auseinander. Blätterten sozusagen auf wie eine fleischige Blüte. Ich beobachtete still und spürte währenddessen wie er, ohne hinzusehen, überzeugt davon war, mein Blick hänge an seiner Tätigkeit. Zweifellos stellte er sich vor, ich müsse mit diversen Fragen an mich selbst beschäftigt sein. Welchen Ursprungs diese Form der Zubereitung sei, woher das kam, was noch alles passieren würde, und schließlich, welcher Moment der richtige sein könnte, um etwas zu sagen.

Nichts davon traf zu, denn tatsächlich betrachtete ich seine Handgriffe mit ausgesprochener Gleichgültigkeit, und sollte ich mir in diesem Moment überhaupt eine Frage gestellt haben, dann, ob sich jene Gedanken, deren ich ihn verdächtigte, wirklich in seinem Kopf herumtrieben. Ich jedenfalls bildete mir ein, sie förmlich zu spüren. Mein Einfühlungsvermögen ging vergleichbar problemlos durch seine äußere Schale wie die Klinge des Messers durch die Tomaten gegangen war.

Sollte ich mich tatsächlich irgendetwas gefragt haben, das mit seiner Beschäftigung in Zusammenhang stand, dann am ehesten, was mit dem Wodka geschehen würde. Ich hielt es für ausgesprochen früh am Tag um ein derartiges Getränk zu mir zu nehmen, beschloss allerdings vorsichtshalber nichts dergleichen verlauten zu lassen. Schließlich hatte ich mir bereits einen Ausrutscher geleistet, und außerdem war der weitere Verlauf noch nicht abzusehen. Am Ende würde ich meinem künstlerisch orientierten Gastgeber mit einem Hinweis auf die völlige Unverträglichkeit eines hochprozentigen Getränks um diese Uhrzeit endgültig das Herz brechen, weil er vorgehabt hatte, seine Enttäuschung über mein ignorantes Verhalten in dem klaren Schnaps zu ersäufen. Da er um seinen ersehnten Auftritt gekommen war, stünde es ihm jetzt seiner Meinung nach zu, sich zumindest zu betrinken. Ich sah das auch so.

Wie zuvor schon die Gurken, wurden auch die Tomaten, da sie geöffnet waren, mit Salz bestreut. Mein Gastgeber bediente sich dabei jener mir in diesem Zusammenhang nunmehr bereits vertrauten Bewegung von Daumen und Zeigefinger, die, Handteller nach oben, soviel wie Preis oder Bezahlung bedeutet hätte. Äußerlich gab er sich den Anschein, als sei er vollkommen in seine Beschäftigung vertieft. Als wäre ich ausschließlich hierhergekommen, um ihm dabei zuzusehen oder freute mich bereits wortlos und wie verrückt auf das Resultat seiner Machenschaften. Ich war absolut sicher, dass er innerlich jeden Moment dieser Zeitspanne genoss. Einer Zeitspanne, die ihn als den Eingeweihten, den Wissenden präsentierte und mich als eine Art Touristen, als wahnsinnig interessierten Besucher, der kein Wort herausbringt, weil er keinen einzigen Augenblick versäumen möchte. Die Grazie seiner Bewegungen hatte mich, seiner Meinung nach, sprachlos gemacht. Ein billiger Triumph, außerdem einer, der von der Einbildung geborgt war. Ich begann mich zu langweilen.

Nachdem mein Gastgeber nahezu alle Gurken und Tomaten, die sich auf dem Tablett befanden, geöffnet beziehungsweise auseinandergeschnitten und gesalzen hatte, griff er nach der Wodkaflasche. Dieser Handgriff löste bei mir ein energisches, wiederholtes Schlucken aus. Ich wusste, dass darin keinerlei Gefahr verborgen lag, sondern eine solche körperliche Gebärde aufkam, um die mir von mir selbst zuerkannte Rolle als Opfer zu unterstreichen. Nunmehr sollte ich vom Übeltäter zum Gejagten werden. Mein Gastgeber wiederum mutierte von jemandem, der sich zurecht über meine Rüpelhaftigkeit beklagt hatte, allmählich zu einem erbarmungslosen Rächer. Als solcher stand ihm ein höhnisches Lächeln gut zu Gesicht, und falls das, was sich auf seinen Lippen abzeichnete, kein solches war, dann handelte es sich zumindest um ein vielsagendes Grinsen. Eines wie es ein geübter Schwimmer kaum verbergen kann, wenn er einen Anfänger dazu animiert, weit mit ihm hinauszuschwimmen. Er grinst, weil er sich ziemlich sicher ist, der Grünschnabel kalkuliere den immer weiter werdenden Rückweg nicht mit ein, werde also später nur noch mit äußerster Mühe imstande sein, ihn zu absolvieren. Ein erfahrener Sportsgeist schwächt ein solches Ausnützen von Unerfahrenheit mit dem Hinweis auf eine heilsame Erfahrung ab – etwas unfair, aber unendlich lehrreich.

Mein Gastgeber ließ den Wodka, nachdem er den Schraubverschluss mit einigen quietschenden Drehungen vom Gewinde geholt hatte, mit bedächtiger Sorgfalt auf das präparierte Gemüse rinnen. Ganz langsam, den Prozess beobachtend und doch eigentlich mich in meinem bangen Zuschauen fixierend ohne dazu seine Pupillen auf mich richten zu müssen. Ein Kunststück, welches ausschließlich einer Psyche gelingt, die es gewohnt ist, verletzt zu werden, einer, die sich mit der Zeit Strategien beigebracht hat, diese Verletzungen zu erwidern.

Ich reagierte auf seinen indirekten Blick mit dem Schatten einer flüchtigen Vertrautheit, einer die üblicherweise eine etwas peinliche Unachtsamkeit begleitet, die in meinem Fall darin bestanden haben könnte, von Anfang an einen Schritt zu weit gegangen zu sein. Möglicherweise wollte etwas in mir kommunizieren, ich hätte keinesfalls mit einer derartigen Maßnahme gerechnet und würde es unter diesen Umständen vorziehen, zum Ausgangspunkt unseres Zusammenseins zurückzukehren.

Gleichzeitig konnte ein aufmerksamer Betrachter diesem vertrauten Blick genauso gut ablesen, ich wisse sehr wohl, dass es für eine solche Rückkehr zu spät sei, wolle aber, dessen ungeachtet, festgehalten haben, wie es unter veränderten Voraussetzungen ausgesehen hätte. Eine derartige Nuance hätte sich selbstverständlich lediglich einem gleichermaßen aufmerksamen wie unvoreingenommenen Betrachter erschlossen. Eine Verschärfung der Tonart, das Einbringen ganz anderer Argumente, oder das Ziehen einer Waffe sind zuweilen in der Lage, die Meinung eines der beiden Gesprächspartner abrupt zu ändern. Und dazu sollte auch ihm eine Möglichkeit eingeräumt werden. Ansonsten könnte man sich die Verlagerung der Auseinandersetzung auf eine andere Ebene sparen und der Sache ein schnelles Ende bereiten. Im Grunde handelte es sich dabei um die unangenehmsten Momente.

Eine endlos scheinende Reihe von Tropfen, die über das geöffnete oder zerteilte Gemüsefleisch lief und deren Gesamtheit von den Rändern des Tabletts wie von einem flachen Becken eingefasst wurde. Der Alkohol rann und vermischte sich mit dem säuerlichen Geruch der Gurken, welcher erst jetzt richtig zur Geltung kam, und den Tomaten. Ein Odeur hochprozentig geschwängerten Gemüses machte sich breit und schien eine Art Vorhut zu bilden, ein Vorspiel, dazu geeignet, die Apokalypse einer geschmacklichen Begegnung zwischen mir, meinem Gastgeber, der einmal mehr im Vorteil war, und den präparierten Materialien einzuleiten.

Mein Gastgeber schien jene Phase, in welcher der Wodka auslief, ganz besonders zu genießen. Je weniger Flüssigkeit sich in der Flasche befand, desto höher stieg der Pegel seines Vergnügens, der die vorhergehende Niedergeschlagenheit offensichtlich längst verdrängt hatte. Eine Niedergeschlagenheit ob der versäumten Gelegenheit, seine Gemälde scheinbar gelangweilt und ihre Brillanz fortwährend voller Hintergedanken herunterspielend, vorzuführen. Eine Absicht, die, zugegebenermaßen, in erster Linie von mir in ihn hineingesehen worden war.

Möglicherweise kicherte er innerlich bereits angesichts meiner Verarbeitung dessen, was in Kürze geschehen würde. Er konnte sich sicher sein, dass ich es noch nie zuvor mit etwas Derartigem zu tun bekommen hatte. So sicher, dass sich jede diesbezügliche Frage erübrigte.

Interessanterweise verhalten sich Eingeweihte gegenüber nicht Eingeweihten oft als wüssten jene ohnehin Bescheid. Eigentlich könnten die Wissenden jeden ihrer Schritte kommentieren und die notwendigen Erklärungen dazu abliefern, sie aber ziehen es vor, ungestört ihre Kür zu absolvieren, genießen ihre Überlegenheit und deuten dem Unkundigen damit an, er habe nunmehr zwei Möglichkeiten: Entweder er lasse dieses demütigende Ritual über sich ergehen, wodurch aus ihm ebenfalls ein Eingeweihter werde, oder er ziehe es vor, ewig ein Außenseiter, ein Ignorant zu bleiben.

In dieser, an und für sich nichts weiter als dummen Haltung steckt das Raffinement, unterschwellig bereits an einer positiven Reaktion zu arbeiten. Hat man erst einmal einer gewissen Menge Irrsinn zugesehen, spricht nur noch wenig dagegen, Zufriedenheit auszustrahlen, um nicht weiter aufzufallen und endgültig als Kretin abgestempelt zu werden. Am besten man tut überrascht, gibt sich angetan.

Als mein Gastgeber endlich ausreichend Wodka über die Gurken und Tomaten geschüttet hatte, beendete er diese Prozedur mit dem typischen Blick, den Menschen, die eine Tätigkeit absolviert haben, die ganz sicher niemand außer ihnen durchschaut hat, einem oder mehreren Anwesenden, aus denen unweigerlich eine Art Publikum geworden ist, entgegenhalten. In diesem Blick schimmert das Vergnügen an der Gewissheit, inmitten von Ahnungslosigkeit Bescheid zu wissen, selbst wenn diese Ahnungslosigkeit in Form eines abwegigen Rituals künstlich herbeigeführt worden ist. Darüber hinaus aber spiegelt sich in einem solchen Blick auch die Aufforderung, es doch selbst einmal mit einer solchen Überlegenheit zu versuchen, sowie das Versprechen, es sei ganz einfach, obgleich sich dieser Umstand ohnedies nicht verbergen lässt. Einen Schimmer davon kann man etwa auf dem Gesicht eines Magiers erkennen, der einen seiner Tricks vorführt und davon ausgeht, die Zuseher würden seine Fingerfertigkeit und seinen Einfallsreichtum bewundern.

In Wahrheit verhält es sich natürlich gar nicht so, dass die Zauberer darauf beharren, ihre Geheimnisse für sich zu behalten. Es will sie nur niemand hören, weil die willkommene Maskerade dadurch unweigerlich an ihr Ende käme. Einen Illusionisten sucht man schließlich auf, um sich etwas vorgaukeln zu lassen. Die Zauberer hingegen versuchen während eines ihrer Auftritte nicht selten durchblicken zu lassen, dass es einer ganzen Reihe irdischer, messbarer, beurteilbarer Begabungen bedarf, um Illusionen derartig überzeugend vorzuführen. Das Publikum seinerseits wertet solche unfreiwilligen Einblicke als Pannen – als Peinlichkeiten. Zwischen dem Magier und seinem Publikum herrscht diesbezüglich eine Art unausgesprochenes Einvernehmen, welches in der Bezahlung der Eintrittskarte seinen Niederschlag findet.

Nun hatte ich meinen Gastgeber allerdings um seinen Teil an der Einladung gebracht, indem ich es durch mein plumpes Verhalten vermieden hatte, ihm eingangs die ihm, seiner Meinung nach, zustehende Präsentation der Gemälde von seiner Hand einzuräumen. Sieht man einmal davon ab, dass meine Gesellschaft ebenfalls einen gewissen Wert darstellt, wie beispielsweise auch der Magier, der ja zum großen Teil Selbstdarsteller ist, die Anwesenheit eines Publikums, die erstaunten Ausrufe des Vergnügens und den Applaus schätzt, zumindest solange er es ist, der ihn erntet.

Man möge sich nun vorstellen, der Magier werde unmittelbar vor Beginn der Vorstellung darüber informiert, an diesem Abend ohne Bezahlung zaubern zu müssen, da sich alle anwesenden Zuschauer auf unerklärliche Weise in den Besitz einer Eintrittskarte gebracht hätten, ohne dafür zu bezahlen. Die Phantasie eines einzelnen Menschen reicht kaum aus um sich vorzustellen, wie drastisch der Zauberer den Zuschauern ihre Schlitzohrigkeit heimzahlen würde.

Vergleichbar bedrohlich empfand ich meine Lage, mit dem Unterschied, mich gar nicht aus hinterhältigen Motiven in eine solche Situation gebracht zu haben. Ich war sozusagen eher unfreiwillig hineingeraten. Ich hätte mir zweifellos so etwas wie ein Ticket gekauft, aber niemand hatte mir eindringlich genug auseinandergesetzt, was für Folgen es haben würde, unter diesen Voraussetzungen ausschließlich zu meinem eigenen Vorteil zu handeln.

Schließlich ereignete sich, was abzusehen gewesen war. Mein Gastgeber hielt mir das Tablett, aus dem nunmehr ein niedriges Becken, welches mit Schnaps angefüllt war, in dem sich betrunkene Gemüsemonster tummelten, hin, das heißt er deutete vielmehr darauf, was wohl soviel wie einer Aufforderung gleichkam, zuzugreifen.

Eine weitere Konstante innerhalb des für Anfänger vorgesehenen Vokabulars seitens solcher, die ausnahmsweise einmal mit dem entscheidenden Wissen ausgestattet sind: Man lässt den Ahnungslosen, der längere Zeit hilflos und verschämt anerkennend einem undurchschaubaren Prozess zusehen musste, zum Abschluss vollends auflaufen, indem man ihn ganz unerwartet um den nächsten Schritt bittet. Als hätte seine Aufmerksamkeit eigentlich dazu führen müssen, nunmehr zu wissen, wie es weitergehe. Die folgende Demutsgeste ist vollständig. Obwohl der nicht Eingeweihte allein aus dem Antrieb heraus, sich zur Wehr zu setzen, zu allem bereit ist, weiß er, wie wenig Sinn das hat, und gibt kleinlaut bei. Menschen mit einem gewissen Maß an Stolz vergessen solche Augenblicke lange nicht. Menschen, die über reichlich Stolz verfügen, nie.

Ich mimte also den Vollidioten, dem es, trotz genauer und übrigens langatmiger Beobachtung dennoch nicht gelingen wollte, zum Wesen der Sache vorzudringen, und grinste als wären mir die Hände gebunden. Grinsen schien mir geeignet, denn es geziemt sich einerseits für den Idioten und etabliert andererseits jenes Flair von Harmlosigkeit, in den ich vor allem mein anfängliches Verhalten gebettet wissen wollte.

Mein Gastgeber ließ sich tatsächlich dazu herab  als ob alles andere unmöglich wäre, ich ihn sozusagen genötigt hätte, gegen jenes Gesetz der Höflichkeit zu verstoßen, dem zufolge dem Gast jeweils der Vortritt gebühre , selbst zuerst zuzugreifen, um mir zu demonstrieren, worum es hierbei gehe. Er beugte sich über das Tablett und ergriff eine wodkagesättigte Gurke, führte sie mit unnachahmlicher Geste zum Mund und biss ungefähr die Hälfte davon ab. Dazu machte er ein Gesicht, als wolle er mir mimisch eine Idee davon geben, wie großartig ihm diese selbst zubereitete Erfrischung bekomme.

Ich wusste, dass es nunmehr ersatzweise darum ging, in erster Linie begeistert zu sein. Mein Abschneiden würde nicht daran gemessen werden, ob ich in der Lage wäre, meine eigene Meinung zu vertreten, sondern gewissen Regeln zu entsprechen, die angeblich jedes Kind versteht.

Um wenigstens ein Mindestmaß an Individualität einzubringen, nahm ich mir eine Tomate, das heißt ich riss ein Viertel aus dem nur noch losen Verband und ließ sie mit einer eleganten Bewegung selbstbewusst zwischen meinen Zähnen verschwinden. Nach außen hin gab ich mich zustimmend. Bestätigend, wenn auch keinesfalls begeistert. Tatsächlich allerdings schien das Gemüse wie ein triefender Feuerball in meiner Mundhöhle zu explodieren. Was ich aß, glich einem sowohl innen wie auch außen getränkten Gewebe, etwas, das zugleich brannte und diesen Brand löschte. Eine Ausweglosigkeit. Ein Nirwana in einem kleinen, aber in diesem Moment entscheidenden Bereich meines Organismus. Ich verschlang etwas und gleichzeitig seine Umgebung, Ursache und Wirkung, eine Katastrophe und die entsprechenden Gegenmaßnahmen. Sobald alles vorbei war, das heißt die Tomate, in die hineinzubeißen ich nicht gewagt hatte, um sie stattdessen mit der Zunge am Gaumen zu zerquetschen, sich auf ihrem Weg Richtung Magen, tiefer in mich und unter meine Kontrolle befand, fühlte sich das Ergebnis gar nicht so schlecht an.

Als hätte man mir den gesamten Rachenraum mit einem Pfefferminz speienden Feuerlöscher ausgebrannt. Ich schien in gewisser Weise geläutert. Und ein wenig benommen. Mein Gastgeber hatte währenddessen, ganz in der Manier von jemandem, der es für notwendig erachtet, jeweils eins draufzusetzen, ebenfalls von den Tomaten genommen, wobei es für ihn selbstverständlich zwei Viertelstücke sein mussten.

Dieses Mal war es an mir, um nichts nachzustehen. Ich nahm mir, zweifellos durch die Wirkung des Alkohols in meinem Enthusiasmus bestärkt, die von ihm übriggelassene Hälfte der Gurke und aß sie auf. Damit hatte ich bei meinem zweiten Versuch bereits ein Quantum geschafft, mit dem er kurz zuvor noch angegeben hatte. Mich störte dabei einzig und allein, dass es so aussah, als würde mich sein Beispiel in meinem Ehrgeiz beflügeln. Das tat es zwar, aber ich war keineswegs daran interessiert, dass man mir das ansah. Außerdem funktionierte sein Einfluss anders als es den Anschein hatte, und die Salzgurke war bedeutend schärfer als die Tomate. Es handelte sich um ein ganz anderes Kaliber, denn zusätzlich zu dem Alkohol getränkten Gemüsefleisch ätzte in diesem Fall die salzige Gurkensäure die vom Wodka wund gebrannten Stellen meines Rachenraums. Einen Moment lang dachte ich, mir würde nichts anderes übrigbleiben, als schreiend durchzudrehen, aber gerade da setzte die betäubende Wirkung des Alkohols ein, und was eben noch empfindliche Schmerzen verursacht hatte, mutierte zu einem harmlosen Echo. Empfindungsmäßig verließ ich eine Art Zentralraum, und was mir in der Folge zusetzte, schien sich von diesem Zeitpunkt an in einem Nebenzimmer zu ereignen.

Mein Blick wurde trüb. Ich kann nicht beurteilen, wie er aussah, aber ihn auszusenden mutete anders an als zuvor. Ich sah meinen Gastgeber, der es offensichtlich darauf anlegte, eine ganze Gurke in seinen Rachen zu schieben, als wäre ihm mittlerweile alles egal.

Ob es ihm gelang, weiß ich nicht, denn ich griff augenblicklich nach einer Tomate, interessierte mich nicht für die im Ansatz vollzogene Viertelung, sondern biss die herunterhängenden Stücke ab. So viele wie ich erwischen konnte. Der alkoholisierte Gemüsesaft rann mir außen an den Mundwinkeln herunter wie einem Schauspieler, der auf das winzige, mit künstlichem Blut gefüllte Kissen beißt, oder einem Boxer, den man gezwungen hat, in den Ring zu steigen, obwohl sein Mundschutz nicht aufzufinden gewesen ist. Der spielerische Wettstreit hatte in mir eine ungewohnte Hemmungslosigkeit entfesselt. Meine Mundhöhle war taub. Ich nahm nur noch den trotz der Entfernung vertrauten Geschmack des Alkohols wahr. Ich schien auf Fleisch gewordenem Schnaps zu kauen. Über das Schlucken hatte ich keinerlei Kontrolle mehr. Alles fiel einfach irgendwann in mich hinein, drang tiefer vor, durch meine Speiseröhre hindurch.

Die Salzgurke, die mein Gastgeber in einem Stück hatte verschlingen wollen, stellte sich als zu groß heraus. Ich beobachtete, wie das eine Ende des länglichen Gemüses bereits jene Zone seines Rachens erreicht haben musste, in dem Eindringendes eine Art Würgen hervorruft, während das andere Ende noch vorne herausragte, tat allerdings so, als würde ich das nicht bemerken. Er rang mit sich, was mir, dem sozusagen offiziell nichts dergleichen auffiel, großes Vergnügen bereitete.

Für diese eigenartige Form von Anteilnahme war zweifellos der Alkohol verantwortlich, der mir inzwischen nicht nur zu Kopf, sondern auch in alle anderen Bereiche meines Körpers gestiegen war. Schließlich gab mein Gastgeber nach und biss ein Stück ab, das gerade so groß war, dass er es, ohne sich zu erbrechen, zerkauen und hinunterschlucken konnte. Die übrig gebliebenen paar Zentimeter Gurke warf er ganz einfach zurück auf das Tablett, als handle es sich um ein Schnapsglas, dessen Inhalt er soeben ohne abzusetzen gekippt hatte. Zweifellos wäre diese Geste von einem leicht verzerrten, aber triumphierenden Blick begleitet worden, hätte das riesige Gurkenstück nicht seine Züge auf entsetzliche Weise entstellt. Es sah so aus, als befände sich etwas in seinem Kopf, dem er keinen Augenblick länger gewachsen wäre. Etwas, über das die Kontrolle zu verlieren, er Gefahr lief. Etwas Lebendiges, dem lediglich mit der Unterstützung furchterregender Grimassen beizukommen war. Meine alkoholschwangere Aufnahmefähigkeit stattete seinen Anblick mit etwas Belustigendem und gleichzeitig Erschreckendem aus.

Nach einer gewissen Zeit, die endlos oder aber nur wenige Augenblicke lang gedauert haben mochte, hatten wir alle Gemüsestücke verschlungen, und falls nicht, dann auf den Boden geworfen, den Wodka über die Ränder des Tabletts schwappen lassen und mit der Zunge von der Tischplatte geschlürft und geleckt. Wir kicherten und versuchten immer wieder erfolglos, uns gegenseitig zu fixieren. Und das alles, obwohl wir uns zusammenrissen. Zumindest von mir kann ich sagen, ich bemühte mich um ein einigermaßen gesittetes Verhalten.

Mitten in dieser beschäftigungslosen, aber durchaus angenehmen Phase des Nichtstuns erhob sich mein Gastgeber plötzlich, torkelte in den anderen Bereich des Raumes und kündigte an, mir eines seiner Gemälde vorführen zu wollen. Er hatte Probleme, auch nur halbwegs verständlich zu artikulieren, ich allerdings etwa gleichartige, aufzunehmen und zu verstehen. Beide Abweichungen schienen einander zu neutralisieren. Allerdings glaube ich, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen zu haben, als breche großes Unheil über mich herein. Diese Geste ließ sich jedoch zweifellos auch als Ausdruck eines verspäteten Triumphes deuten.

Er spazierte von Stoß zu Stoß, blätterte mal hier und mal da, als bereite es ihm Schwierigkeiten, ein ganz bestimmtes, ihm repräsentativ erscheinendes Bild auszuwählen. Schließlich holte er eine mittelgroße Leinwand aus einem Konvolut, besah sich zunächst die bemalte Seite, machte ein nur mäßig zufriedenes Gesicht, als könne, was er da sah, mit seinen Vorstellungen oder Erwartungen gerade eben mithalten, und drehte die Schauseite der Leinwand zu mir.

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