IMAGINE GAIA
Elisabeth von Samsonow
Wir wurden daran gewöhnt, uns als Existierende zu empfinden, als diejenigen, die Herausstehen aus der Fläche, nach oben orientiert, unter uns ein rätselhafter Boden, der alles Mögliche aus sich heraustreibt, Gewächse, Gebirge, Gewalten, Gegenden, Gebäude, Gemenge, Gestelle, Geräte, Gewöhnliches und Ungewöhnliches. Eine Erde, die uns enthält, wurde uns als System erklärt, das eine kosmische Geschichte hat, mit Anfang und Ende. Die Erde ist die längste Zeit ein Laden gewesen, an dem sich Menschen bedienen, sich auch an ihm erfreuen. Uns zuinnerst fremd, eine eigene Logik besitzend, ist dieser Planet Objekt gewesen, eine geologische und geophysikalische Tatsache, ein erkaltender Steinhaufen, eine Substanz mit Rinde, die besiedelt ist. Das System Erde ist für uns vor allem die Biosphäre, die bewohnbare oberste Schicht, mit der Lufthülle, die sich spannt über Territorien und die Hydrosphäre.
Seit hundert Jahren, vielleicht auch bereits in singulären Ereignissen davor (wie etwa in Thomas Huttons Erdbeschreibungen und in den dicken Büchern über das Unterirdische von Athanasius Kircher), kehrt sich die Sachlage allmählich um. Die russischen Kosmiker, allen voran Vladimir Vernatsky, aber auch Alfred Lotka, haben eine andere und neue Beschreibung der Erde vorgelegt, in ekstatischem Ton, in Zelebrierungen der Leben produzierenden Energie der Erde. Dass die Erde ein lebendes System ist, das selbst nichts anderes – und das immer schon – zum Ziele hat, als Leben zu produzieren und sich darin in allen möglichen Varianten zu überbieten, hat eine Perspektive auf die Erde eingeführt, die die jüngeren Erd- oder Biosphärentheoretiker wie Lynn Margulis und James Lovelock begeistert weiter entfaltet haben. Im Zuge dieser Überlegungen und Zuschreibungen verdichtete sich der Fokus auf die Erde in einem Verfahren, das als anwachsende Subjektivierung der Erde verstanden werden darf. Die Erde ist ein Lebewesen. Darin kulminieren diese Betrachtungen, die neuerdings von dem französischen Philosophen Bruno Latour auf ihre philosophische Tragweite hin überprüft worden sind. Dieses Subjekt Erde, von dem jetzt die Rede ist – es ist kein Objekt mehr, und schon gar nicht mehr nur ein Objekt der Geologie – fordert uns heraus. Als erstes erhält es einen Namen, und es ist der – wie Latour unterstreicht – einer paganen Göttin, nämlich Gaia. Die Theologie einer paganen Göttin erfordert eine andere Nomenklatur, ein anderes Aufzeichnungssystem, ein angemessenes Wahrnehmungssystem.
Da ist es nicht zuletzt die Expertise der KünstlerInnen, die gefragt ist. Denn wie sollte man die Imagination umfrisieren, um die feinen Ebenen, die Gaia emaniert, wirklich zu verstehen? Die tastenden, die komprehensiven, die mehrdimensionalen Zugänge, die poetischen Hypothesen der Kunst verschwistern sich mit den Aufzeichnungsverfahren der Philosophen, der Wissenschaftler, der Literaten, der neuen Agrikultur im Sinne der Kompostisten und der Permakulturaktivisten. Eine breite Schwellenaktivität entfaltet sich in einem Raum, der Interaktionsraum ist, und so noch unbestimmt, dass er die horchenden und schauenden Leute in Erdpropheten verwandelt. Was, wenn die neue Erde, Gaia, die Population wirklich in ihre Kinder verwandelt, zumal sie wahrscheinlich die bedeutend umfangreichere und wirksamere Form der Subjektivität leicht beanspruchen kann als die auf ihr und durch sie existierenden – oder besser: insistierenden – Leute hat? Wer zeichnet also wie die feinen Kräftefelder auf, die zarten Häutchen, die Muster, die die Erde durchziehen und alle Lebewesen verwickeln in die unzähligen Wege und Schicksale, die so viel bedeuten und so schwer zu erfassen sind? Die KünstlerInnen haben da ihre eigene Expertise, die sie jetzt anbieten, und sie realisieren sich mit genau den Mitteln, die sie zur Verfügung haben, nämlich mit allen Medien, die zur Kunst gehören oder gehören werden. Max Böhmes Zugang ist einer, der seine bisherige künstlerische Praxis aufweitet, buchstäblich. Er malt mit dem programmatischen Gemälde „Imagine Gaia“ einen Riesenhorizont,– eigentlich eine Serie von Horizonten und Nichthorizonten, horizontal angeordnet, – der den Betrachter maßstäblich, beinahe erzieherisch, so verkleinert, wie es notwendig ist, damit die richtige Proportion zwischen den Subjektivitätstypen eingeführt werden kann. Gaia ist logischerweise ein Riesenbild. Es komponiert – im Sinne des Zusammensetzens – Formationen unterschiedlicher Art, die diesen Körper, der nun Gaias epiphanischer Körper ist, zueinander gesellt, pastos, fließend,als Verstehen von Steinen, Bewuchs, Fluss, Hohl- und Konvex-formationen gestaltet ist, ein Diagramm ist das, malerisch, diagrammatisch, expressiv, gefühlt und durchgearbeitet. Ein Porträt der paganen Gaia. Es ist ein Riesenmosaikstein im Set des zukünftigen Wissens.